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aus Deutschland

Interessieren Sie spannende Geschichten aus der Nähe?

Zu Hause schreibe ich vor allem Sozialreportagen, Porträts und Interviews über Menschen, Projekte und Initiativen.

Esther Bejarano spielte im Mädchenorchester von Auschwitz, ein Porträt

© Galerie der abseitigen Künste

Was passiert mit der Altkleidersammlung? Eine Spurensuche in Burundi

© Karin Desmarowitz

Reportage über AlzPoetry-Slam in Altenheimen

© Wolfgang Huppertz

© Stefan Malzkorn

© Universität Hamburg

Maja Göpel zählt zu den führenden Transformationswissenschaftlerinnen Deutschlands. Ein Spaziergang in Berlin.

© Karin Desmarowitz

© Jana Maiwald

Alzpoetry

Stadtentwicklung

erschienen bei goethe.de, Juli 2016

Wolfgang Maennig: Keine olympische Disziplin

Olympiastandort Hamburg oder Deutschland? Ein Interview mit Wirtschaftsprofessor Wolfgang Maenning

© Universität Hamburg

Olympische Spiele haben in erster Linie einen positiven Effekt für den Sport, sagt Wirtschaftsprofessor und Ruder-Olympiasieger Wolfgang Maenning. Warum er sich gegen Olympia als Stadtentwicklungsinstrument ausspricht, eräutert er im Interview.

Herr Maenning, fördern Megaevents wie die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro die Wirtschaft? Statistische Untersuchungen kommen unisono zu dem Ergebnis, dass Einkommen, Beschäftigung, Steuereinnahmen und Tourismuszahlen durch solch einen Mega-Event nicht steigen. Es gibt nur wenige Ausnahmen wie die Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika 2010. Dort nahmen die Touristenzahlen zwischen 100.000 und 200.000 Menschen zu, wahrscheinlich weil die WM in der Nebensaison stattfand. Normalerweise finden solche Events aber in der Hauptsaison statt, wenn die Kapazitäten der Gastgeber sowieso ausgebucht sind. Wie schätzen sie die Touristenzahlen in Hinsicht auf Rio ein? Auf dieser statistischen Basis ist davon auszugehen, dass es keine signifikanten Effekte geben wird. Es wird zwar die brasilianische Nebensaison sein, aber die Olympischen Spiele werden von anderen Problemen überlagert sein wie der wirtschaftlichen Situation im Land und weltweit. Hinzu Diskussionen um Zika, Unruhen und Kriminalität in Rio – das schreckt tendenziell Touristen ab. Eins ist wichtig: Selbst wenn es einen Effekt wie in Südafrika geben sollte, wird er deutlich kleiner sein als die erwartete halbe Million oder Million zusätzlicher Touristen. Haben Mega-Events überhaupt positive Effekte? Zum Beispiel auf Infrastruktur und Bevölkerung? Natürlich gibt es positive Effekte. Beginnen wir beim Sport, um den es ja in erster Linie geht. Hier ist ein starker Heimvorteil empirisch nachgewiesen. Deshalb erwarten wir im Fall von Rio eine deutliche Zunahme der brasilianischen Medaillenzahlen. Das ist aus Sicht des brasilianischen Sports ein großer Wert an sich. Die Frage nach der Infrastruktur ist eigentlich fehlgeleitet. Es ist nicht die Aufgabe von Olympischen Spielen, die Stadtentwicklung zu fördern. Stadtentwicklung ist keine olympische Disziplin. Was könnte dann ein positiver Effekt sein? Der positive Wert von Olympischen Spielen sind die Spiele an sich. Sie auszurichten ist der Lohn, den eine Stadt bekommt. Sie steigt auf in eine ausgesuchte Liga von olympischen Städten in der Welt. Sie erfährt dieses wunderbare Erlebnis, den besten Sport in der Stadt zu haben - das ist der Lohn. Die Frage “Was haben wir davon?” im Sinne von “kriegen wir dafür Geld, wenn wir uns und unseren Gästen ein großes Fest bereiten” ist von vornherein falsch gestellt. Warum steht die Stadtentwicklung trotzdem immer im Fokus? Wir leiden unter dem Barcelona-Syndrom. Dort ist es gelungen, die Stadtentwicklung im Zuge der Olympischen Spiele 1992 erfolgreich voranzutreiben. Allerdings hatte dies einen einzigartigen historischen Hintergrund: Franco hatte Katalonien vernachlässigt. Spanien hatte sozusagen etwas gut zu machen. 1986 trat es der EU bei, deren Fördertöpfe waren nun erreichbar. Seitdem bewerben sich die Entscheidungsträger aller Welt nicht mehr um die Olympischen Spiele, weil sie die besten Sportler in ihrer Stadt haben wollen, sondern weil sie in eine Position kommen wollen, ihre nationale Regierung um Milliarden öffentlicher Zuwendungen erpressen zu können. In Rio protestiert die Bevölkerung gegen Umsiedlungen und Preissteigerungen. Wie können diese Probleme in Zukunft umgangen werden? Die Tendenz zu einem Missbrauch Olympias als einem fehlgeleiteten Stadtentwicklungsinstrument müssen wir als olympische Familie verändern. Ja, es hat uns eine Weile lang gefallen, dass anlässlich unseres Sportfestes Milliarden in Stadtentwicklung gesteckt wurden. Das hat uns scheinbar aufgewertet. Aber inzwischen sind uns die Milliardenausgaben, die nichts mit Olympia zu tun haben, auf die Füße gefallen. Der wachsende Widerstand in den lokalen Bevölkerungen gegen Olympia basiert wesentlich auf dem Glauben, dass die Spiele Milliarden kosten würden. Die Hamburger Bevölkerung mit ihrer ablehnenden Haltung ist kein Einzelfall, sondern die Regel. Auch die Abstimmungen in Wien, Krakau, München und St.Moritz/Graubünden gingen verloren. Ein Hauptargument der Gegner waren immer die Ausgaben in Milliardenhöhe. Wie kann Olympia für Städte wieder attraktiver werden? In der olympischen Familie müssen die Alarmglocken schrillen. Es ist unsere Pflicht zu reagieren und zu sagen: Wir wollen nicht mehr, dass unter dem Deckmantel von Olympia eine zuvor verschlafene Stadtentwicklung betrieben wird. Wir wollen ein Sportereignis, mehr nicht. Bitte keine neuen Autobahnen, Flughäfen oder Bahnhöfe speziell für Olympia. Dafür müssen wir natürlich unsere Ansprüche herunterschrauben, auch mal kleinere Sportstätten akzeptieren und mit bestehenden Infrastukturen zufrieden sein. Um es deutlich zu machen: Bisher galt Olympia als Königsweg der Stadtentwicklung, und das ist schiefgegangen. In Zukunft muss Olympia als Krönung einer gut gelungenen Stadtentwicklung gelten. Die Spiele sollten nur noch in Städte gehen, die für ihre Bürger eine so überzeugende Sportstätten-Infrastruktur erreicht haben, dass sie einen Mega-Event ohne große Investitionen betreiben können. Wolfgang Maenning, Jahrgang 1960, ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hamburg. Im Jahr 1988 wurde er in Seoul Ruder-Olympiasieger. Maennings Gutachten zur Finanzierung von Sportgroßereignissen, die er unter anderem von den deutschen Olympiabewerbungen (Berlin 2000, Leipzig 2012) erstellt hatte, fanden viel Beachtung.

Alzpoetry

Zauberei mit Worten

erschienen in Sozialcourage, Heft 4/2012

Reportage über AlzPoetry-Slam in Altenheimen

Das Projekt Weckworte“ beschert dementen Menschen Momente der Freude. Der Marburger Poetry-Slammer Lars Ruppel tourt mit seinem besonderen Gedicht-Workshop seit 2009 durch deutsche Seniorenheime. Im April kam er zum ersten Mal in den Norden und brachte Schüler des Harburger Wirtschaftsgymnasiums mit den Bewohnern der Rotkreuz-Seniorenheim Eichenhöhe zusammen. Gemeinsam verbrachten sie eine Stunde voller Gedichte, Gesang  und Lachen.

„Ding Dong, Ding Dong - kennen Sie das? Mein Gedicht macht Ding Dong!“ Lars Ruppel, 27 Jahre, weinrote Cordhose, Sakko, verwuschelte Haare und Hornbrille, schreitet theatralisch durch den Stuhlkreis im Speisesaal. Die alten Menschen starren gebannt auf den fremden jungen Mann. Was will er von ihnen? Worum geht es hier? Warum sitzen sie im Speisesaal, wenn es doch kein Essen gibt? Allmählich tauchen die Worte jedoch aus ihren verschütteten Erinnerungen auf: die Glocke, Schiller, Schule! Fast jeder hat das Gedicht in seiner Jugend gelernt. Irgendwo in den Tiefen des Gehirns verbergen sich die Zeilen. Während Lars Ruppel sie lauthals deklamiert, huscht ein zartes Lächeln über das eine oder andere Gesicht. „Fest gemauert in der Erden, steht die Form aus Lehm gebrannt. Heute muss die Glocke werden! Frisch, Gesellen, seid zur Hand!“ Lars Ruppel spricht langsam, eindringlich, deutlich. Fast brüllt er die Silben in den Saal hinein. Immer wieder, immerfort wiederholt er die ersten vier Zeilen in monotonem Stakkato. Er geht von Rollstuhl zu Rollstuhl, ein, zwei, drei Runden lang. Dabei blickt er den alten Menschen tief in die Augen. Er packt sie bei den Händen, berührt ihre Arme und siehe da: Sie erinnern sich! Hans-Jürgen Kurzwig, acht Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs geboren, schmettert plötzlich die Zeilen mit. Sophie Mrula, 94 Jahre, schlägt vergnügt ihre Hände auf die Oberschenkel. Freudestrahlend fällt sie in den Singsang ein. Selbst Frau „Wunderschön“ brabbelt etwas vor sich hin. Lars Ruppel hat ihr den entzückenden Märchennamen gegeben, weil sie ihren richtigen vergessen hat. Frau Wunderschöns achtzehnjährige Sitznachbarin kämpft vor Rührung mit den Tränen. Begegnung nimmt Beklemmung Die beiden Frauen verbindet bereits eine besondere Begegnung. Ferda Gençtürk gehört zu den zehn Schülern des Harburger Wirtschaftsgymnasiums, die heute den Gedichtworkshop mit Lars Ruppel gestalten. Als sich die Schülerin zu Beginn bei den Senioren vorstellte, ließ die alte Dame ihre Hand nicht mehr los. Verlegen suchte Ferda Gençtürk das Gespräch: „Wie geht es ihnen?“ Und: „Wir wollen heute Gedichte aufsagen.“ Ihr Gegenüber blieb jedoch sprachlos. Die peinliche Situation rettete Profi Ruppel. „Oh, Frau Wunderschön, sie halten ja die Hand dieser jungen Frau so fest, was ist denn damit?“, fragte er, löste den Klammergriff und fasste selbst kräftig zu. „Warm“, flüsterte die alte Dame. Ein besseres Stichwort konnte sie dem Improvisationskünstler nicht geben. Geschwind verdrehte er die Worte, dichtete Verse, erfand ein fröhliches Liedchen, schwang ihre Hände in die Luft und löste sich somit spielerisch aus ihren Fesseln. Frau Wunderschöns Gesicht erstrahlte für einen Augenblick. Mit Ringelnatz im Rucksack „Es geht darum, den Moment zu genießen, fröhlich zu sein und positiv zu bleiben“, erklärt Lars Ruppel. „Die wirklich stark dementen Menschen holen wir nicht mehr in unsere Welt zurück. Wir müssen uns selbst in ihre Welt hineinbegeben.“ Mit bestimmten Methoden wie Hände- und Augenkontakt, Bewegungen, Rhythmik, chorischem Singen und Mimik setzt der Marburger Dichter Erinnerungsprozesse in Gang. Durch direkte, persönliche Ansprache öffnet er die Rezeptionskanäle der dementen Menschen. „Weckworte“ heißt das Projekt, mit dem er seit 2009 durch deutsche Seniorenheime tourt. Die Idee stammt aus den USA, wo Poetry-Slammer Gary Glazner seit 2004 erfolgreich „Alzpoetry“ für Senioren praktiziert. Lars Ruppel bringt in Deutschland Jung und Alt zusammen. „Am Schönsten wäre es, wenn sich ein Schüler danach um ein Praktikum oder einen Ausbildungsplatz bewirbt“, findet er. Die Schüler trafen sich bereits um acht Uhr morgens mit Lars Ruppel zum Workshop im Keller des Harburger Rotkreuz-Seniorenheims. Sie lernten Grundlagen der Bühnenpräsenz, Aussprache oder Atemtechnik und am Ende der Einheit erhielt jeder ein Gedicht. Nun tragen sie eine Stunde lang Klassiker wie Eichendorff, Ringelnatz, Fontane oder Goethe vor. Auch Wilhelm Busch und Heinz Erhard stehen auf dem Programm. Mit jedem Wort überwinden die jungen Leute mehr ihre Scheu, mit jeder Zeile gewinnen ihre Stimmen an Volumen. Wenn ihr Publikum schwächelt, springt Lars Ruppel auf und macht wieder Dampf. „Eine Stunde Konzentration ist für sie ein extrem herausforderndes Programm“, weiß er. Kein Wunder, dass eine Dame zwischendurch einnickt und zwei den Saal vorzeitig verlassen. Das verbleibende Dutzend hat jedoch großen Spaß. Zum Schluss dreht Lars Ruppel noch einmal die Runde, verteilt goldstrahlende Ranunkeln und fragt jeden Einzelnen: „Was ist das Schönste für Sie?“ Aus den Antworten formt er ein Gedicht, das er mit Tanz und Gesang vorträgt: „Es ist schön, wenn die Männer zu einem kommen! Es ist schön, wenn man Geld hat! Es ist schön, wenn man lebt! Es ist schön, wenn man den Moment genießen kann!“ Und zwischen den Strophen singen alle zusammen die Gute-Laune-Hymne Nummer Eins: „Oh, wie ist das schön! Oh, wie ist das schön! So was hat man lange nicht gesehn, so schön, so schön!“ Zum Abschied bringen die Schüler ihre Nachbarn auf die Zimmer. „Ich bin absolut positiv überrascht“, sagt Ferda Gençtürk. „Die alten Menschen erschienen erst so grimmig, aber dann waren sie superlieb und es war eine tolle Stimmung.“ Auch die Leiterin der Sozialen Betreuung im DRK-Seniorenheim Eichenhöhe ist begeistert. „So etwas ist ein absolutes Highlight für unsere Bewohner“, sagt Dominique Robertson, die Lars Ruppel zum ersten Mal mit Hamburger Schülern zusammengebracht hat. „Sie vergessen alles, was passiert ist, aber die Emotionen bleiben. Was sie erinnern, ist, dass dies ein wunderschöner Tag ist.“ Geschäftsführer Wolfgang Korn will das Projekt auf jeden Fall wiederholen. Zum Abschied bedankt er sich bei den jungen Menschen: „Sie haben heute zaubern gelernt. Sie haben ein Lächeln in die Gesichter unserer Bewohner gezaubert.“ Wer könnte das besser einschätzen als jemand, der täglich mit Dementen arbeitet? Fünf Fragen an Lars Ruppel 1. Warum machen Sie „Weckworte“? Das Projekt ist sinnvoll und es zeigt mir, was ich als Dichter alles bewirken kann, nämlich: dass Menschen sich für einen kurzen Moment besser fühlen. 2. Wie sind sie dazu gekommen? 2009 hatte ich die Möglichkeit, mit Förderung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst einen Workshop zu organisieren. Dazu lud ich Gary Glazner aus den USA ein, von dessen Projekt „Alzpoetry“ ich gehört hatte. Bei dem Workshop habe ich selbst gleich mitgemacht und ich war so begeistert davon, dass ich das Konzept in Deutschland übernommen habe. 3. Wie funktioniert „Weckworte“? Ich verinnerliche klassische Gedichte, um sie Menschen vorzutragen, die meine volle Aufmerksamkeit brauchen. Wenn mir das gelingt, wecke ich ihr Verständnis für diese Worte. Mein Anspruch dabei ist, die Gedichte so vorzutragen, dass für jeden Menschen, auch wenn er mich nicht sieht, hört oder sonst wie wahrnimmt, etwas rüberkommt. 4. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Zu den einfachsten und schönsten Dingen, die Menschen füreinander tun können, zählt, sie zum Lachen zu bringen. Wenn mir das gelingt, ist das etwas Wunderbares. Nach so einem Workshop bin ich meistens erschöpft. Das ist ein Hinweis, dass ich es gut gemacht habe und die Gedichte mit Leben gefüllt habe. 5. Wie sieht Alzpoetry aus, wenn Sie alt sind? Das wird sicherlich schwierig, weil wir nicht mehr so viele Gedichte können wie die jetzigen Senioren. Die zukünftigen Weckworte werden wohl eher etwas mit Werbebotschaften zu tun haben oder mit Gangsterrap.

© Wolfgang Huppertz

Ein Shirt geht um die Welt

Wie landet Maxims Handballtrikot in Burundi?

erschienen in Frau und Mutter, Heft 4/2014

Wohin geht die Altkleidersammlung? Eine Spurensuche nach Burundi

© Karin Desmarowitz

Altkleider legen bisweilen absurde Wege zurück. Zum Beispiel vom Hamburger Stadtteil Niendorf in das burundische Dorf Gaturanda. Hier trägt die Bäuerin Marguerite Nzigo das ausrangierte Handballtrikot des zehnjährigen Norddeutschen Maxim Maderner. Eine Spurensuche.

Ganz Afrika trägt Secondhand. Wohin auch immer das Auge schweift, trifft es auf ausgewaschene Spiderman-T-Shirts, zerrissene Hello-Kitty-Pullover oder Trikots der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Auch Burundi, das kleinste und ärmste Land im Herzen Afrikas, ist voll von „Schweinsteigern“ oder „Ballacks“. Bei einer Schulspeisung in dem abgelegenen Dorf Gaturanda im Norden des Landes sind jedoch die wenigsten Motive und Farben noch zu erkennen. Die Menschen sind hier so arm, dass ihre Kinder selten Wäsche zum Wechseln besitzen. Viele Schülerinnen und Schüler tragen erdfarbene Lumpen am Körper, zerfledderte Latschen, kaum identifizierbare Labels. Umso auffälliger blitzt ein weiß-blaues Trikot unter der traditionellen Kitenge einer Frau hervor, die bei der Zubereitung des Mittagessens hilft. Der halbverdeckte Schriftzug über dem Tuch lässt erahnen, dass das Trikot aus dem Hamburger Stadtteil stammt, in dem ich wohne. Höflich frage ich die Frau mithilfe des Dolmetschers, ob sie mir ihr T-Shirt zeige. Marguerite Nzigo ist irritiert. Was will die Fremde von ihr? Die einfache Bauersfrau spricht kein Französisch, ihre Muttersprache ist Kirundi. In den 50 Jahren ihres Lebens hat sie weder lesen noch schreiben gelernt. Bürgerkrieg, Hunger, Landmangel – seit ihrer Geburt ist Marguerite Nzigo mit dem schieren Überleben ihrer acht Kinder und sieben Enkel beschäftigt gewesen. Dennoch geht die gesamte Familie abends hungrig zu Bett. Und jetzt steht diese „Mizunga“ vor ihr, diese weiße Frau, und will, dass sie sich auszieht? Der Dolmetscher erklärt das außergewöhnliche Anliegen auf sehr charmante Art und Weise. Schließlich glätten sich die argwöhnischen Falten auf Marguerites Stirn und sie zieht das Tuch bis auf Bauchnabelhöhe herunter. Zum Vorschein kommt ein Trikot vom Niendorfer Turn- und Sportverein (NTSV). Das weiße Polyestermaterial blitzt in der sengenden Mittagssonne. Die kobaltfarbenen Streifen und Schriftzüge leuchten so blau wie der tropische Himmel. „Handball Herbst Camp 2010“ steht diagonal auf Marguerites Bauch, über der Nummer 5 auf dem Rücken prangt der Name „Maxim“. Wie kommt dieses Trikot bloß hierher? „Ich glaube, Maxim hat es einfach verloren“, sagt seine Mutter Michaela Maderner in Hamburg. Ihr heute zehnjähriger Sohn hatte das Trikot beim Herbstcamp seines Sportvereins 2010 geschenkt bekommen. Dann war es eines Tages verschwunden. „Er hat es wahrscheinlich in der Halle liegen lassen“, vermutet die Mutter. „Vielleicht habe ich es aber auch in einen Altkleiderkorb auf dem Bürgersteig getan.“ Wie auch immer, die Reise von Maxims Trikot nach Afrika begann also vermutlich bei einem der unzähligen dubiosen Altkleiderhändler, die in dem weltweiten Millionengeschäft das große Geld machen wollen und illegale Straßensammlungen durchführen oder gar gesetzeswidrige Container aufstellen. „Altkleider sind ein gefragtes Produkt auf dem Weltmarkt und dubiose Sammler treiben die Preise in die Höhe“, erklärt Andreas Voget, Geschäftsführer von FairWertung. Der Dachverband der seriösen gemeinnützigen und kirchennahen Organisationen, die Kleidersammlungen durchführen, will in dem schwer zu durchschauenden Markt Klarheit verschaffen. Wegen unlauteren Wettbewerbs, mangelnder Transparenz und zunehmender Illegalität gerät die Branche in jüngster Zeit häufig in die Schlagzeilen. Anerkannte Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz konterten bereits mit einer Transparenzoffensive. Sie klären ihre Spender auf, dass längst nicht jede Hose oder Jacke direkt einem Bedürftigen zugutekommt, sondern das Gros der Spenden an seriöse Textilverwerter verkauft wird, der Erlös aber in die Sozialarbeit vor Ort fließt. Über die illegalen Sammlungen liegen keine verlässlichen Zahlen vor. Fest steht, dass sie ein immer größeres Ausmaß annehmen und seriösen Textilverwertungsunternehmen Existenzsorgen bereiten. Legal rangieren die Deutschen rund 750.000 Tonnen Textilien im Jahr aus. Der größte Teil landet über einen der 120.000 aufgestellten Container in einem ordentlich arbeitenden Sortierbetrieb. Hier werden die Spenden unter bestimmten Kriterien in Secondhand-Ware (43 Prozent), Textilien für Putzlappen (16 Prozent) oder Recycling (21 Prozent) aufgeteilt. Rund 20 Prozent wandern als Abfall in die thermische Verwertung. Das Sammeln, Transportieren und Sortieren kostet Geld, viel Geld. Doch der Erlös vom Verkauf der verwertbaren Kleidungsstücke bringt noch mehr ̶ je nach Qualität zwischen 200 und 500 Euro pro Tonne. Die ausrangierten T-Shirts, Pullis oder Schuhe landen in aller Herren Länder. „Mindestens 20 Prozent der gesamten Sammelmenge geht nach Afrika“ schätzt Andreas Voget. Das sind mindestens 150.000 Tonnen jährlich allein aus Deutschland. Plus der ständig wachsende Anteil illegaler Sammlungen. Was aber bewirken unsere Altkleider in diesen Ländern? Überschwemmen sie nicht die Märkte und vernichten die Textilbranchen, wie Studien von Oxfam oder dem Südwind-Institut zu Beginn der 90er Jahre betonten? Recherchen von FairWertung in Tansania, Kamerun und Mali zeigen heute, dass der der damalige Niedergang der heimischen Textilindustrie vielmehr auf den Abbau von Importverboten und Subventionen zurückzuführen war als auf die Altkleiderimporte selbst. „Damals wurden zwei Dinge miteinander vermischt, die nicht direkt etwas miteinander zu tun hatten“, erklärt Andreas Voget. Das Ergebnis seines zweijährigen „Dialogprogramms Gebrauchtkleidung in Afrika“ veröffentlicht der Verband auf seiner Website: „Secondhand-Kleidung ist unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen in vielen afrikanischen Ländern nicht wegzudenken. Hauptgrund ist die geringe Kaufkraft. Außerdem gibt es kein ausreichendes und erschwingliches Bekleidungsangebot aus lokaler Produktion. Die auf den Märkten angebotene Neuware kommt überwiegend aus China, ist aber oft von minderer Qualität.“ Diese Erkenntnis ist auch auf Burundi übertragbar. „Viele Leute bevorzugen die Second-Ware aus Europa oder den USA, weil sie länger halten und günstiger sind als neue Kleidung aus Uganda oder anderen afrikanischen Ländern“, bestätigt Isidore Hatungimana, der bei der Welthungerhilfe für das Schulspeisungsprogramm in Gaturanda zuständig ist. Er selbst trägt auch importierte Altkleider, nur Unterwäsche kauft er grundsätzlich neu. Marguerite Nzigo hat ihr T-Shirt auf dem kleinen Marktplatz ihrer Gemeinde rund fünf Kilometer von der Schule entfernt gekauft. Etwa ein Drittel der dortigen Ware ist Secondhand. Der Rest wurde überwiegend in Asien produziert. Für das T-Shirt hat die achtfache Mutter umgerechnet etwa 80 Eurocent bezahlt. Dafür musste sie mehr als einen halben Tag Feuerholz sammeln und verkaufen. Lucien D’Hooge, Büroleiter der Welthungerhilfe in der Provinz Kirundo, meint, die Kleiderspenden sollten nicht kostenfrei an die Armen verteilt werden. „Die Menschen schätzen Dinge grundsätzlich mehr, wenn sie etwas dafür mussten“, sagt er. Nur in Katastrophenfällen sollten Kleidungsstücke ausgegeben werden. Ansonsten entstehen durch den Altkleiderhandel neue Wirtschaftskreisläufe. Wer also in Deutschland sicher gehen will, dass seine Altkleider direkt Bedürftigen zugutekommen, bringt sie am besten persönlich in den Kleiderkammern, Sozialkaufhäusern oder karitativen Einrichtungen vorbei.

Esther Bejarano

Ein Leben für das Erinnern

erschienen in Frau und Mutter, Heft 1/2014

Esther Bejarano spielte im Mädchenorchester von Auschwitz, ein Porträt

© Galerie der abseitigen Künste

Dank ihres musikalischen Talents und ihrer Spontaneität überlebte Esther Bejarano die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück. Mit 89 Jahren steht sie noch immer auf der Bühne und rappt gegen rechts.

Dieses Konzert ist ein Heimspiel. Der große Hörsaal des Departments für Wirtschaft und Politik an der Universität Hamburg ist bis in die oberste Reihe gefüllt. An den Wänden hängen Banner. Die Botschaften sind kurz, aber eindeutig: „Gegen das Vergessen“, „Nie wieder Faschismus“, „Nie wieder Krieg“. Es ist der siebte November 2013. In zwei Tagen jährt sich die Progromnacht der Nationalsozialisten zum 75. Mal. Wie jedes Jahr hat das Auschwitz-Komitee zu einer Gedenkveranstaltung geladen. Viele grauhaarige Männer und Frauen sind erschienen, aber auch junge Menschen mit bunten Haaren, Tunnelohrringen oder Mützen auf dem Kopf. In einer Ecke sitzen auffallend viele Schwarze – sie gehören zur Flüchtlingsgruppe „Lampedusa in Hamburg“, die im Juni in der St. Pauli-Kirche notdürftig untergekommen ist. Kampf gegen das Vergessen Pünktlich als eine der Letzten betritt Esther Bejarano den Raum. Zu sehen ist nur eine Menschentraube, die um sie herum wabert und die kleine Person vollkommen verdeckt. „Esther, hältst du eine kurze Ansprache?“, fragt Moritz Tersloh vom Auschwitz-Komitee. Seine Vorsitzende winkt jedoch ab. „Lasst mich doch bloß in Ruhe“, sagt sie und lacht. Lieber quatscht sie noch ein bisschen mit all den Bekannten und Freunden, mit denen sie seit Jahrzehnten gegen das Vergessen, gegen Ungerechtigkeit und Faschismus kämpft. Zwischendurch grüßt sie das eine oder andere bekannte Gesicht. Als ihr Blick auf die Lampedusa-Leute fällt, beginnt sie zu strahlen. Aufgeregt wie ein junger Backfisch winkt die fast 89-Jährige zu ihnen hinüber. Erst letzte Woche hat sie die Hamburger Flüchtlingspolitik öffentlich kritisiert. Eine „Schande für die Stadt“ seien die Polizeiaktionen gegen libysche Kriegsflüchtlinge, erklärte die Trägerin des Großen Bundesverdienstkreuzes und vieler weiterer Auszeichnungen auf einer Pressekonferenz. Jetzt sind die Nordafrikaner hier, um gemeinsam mit der deutschen Zeitzeugin an den Naziterror zu erinnern. Esther Loewy wurde am 15. Dezember 1924 in Saarlouis geboren. Als Tochter des Oberkantors der jüdischen Gemeinde lernte sie Singen, Blockflöte und Klavier spielen. Das sollte ihr später das Leben retten. 1941 verschleppten Hitlers Schergen die 16-Jährige ins Zwangsarbeitslager Neuendorf bei Fürstenwalde/Spree. Zwei Jahre später kam sie nach Auschwitz. Am Tag ihrer Ankunft wurde ihr die Nummer 41948 auf den Arm tätowiert. „Namen wurden abgeschafft“, schreibt sie in ihrem Buch „Erinnerungen“, das im Oktober erschienen ist, „wir waren nur noch Nummern.“ Mitglied im Mädchenorchester Auschwitz Esther hatte dennoch eine besondere Stellung, denn sie sang den Blockältesten Lieder von Bach, Schubert, Mozart oder anderen Komponisten vor. Dafür steckten sie ihr hin und wieder ein Stückchen Brot oder Wurst zu und als schließlich ein Mädchenorchester gegründet werden sollte, wurde sie für das Akkordeon vorgeschlagen. „Ich hatte noch nie ein Akkordeon in der Hand“, schreibt sie. „Aber ich sagte, ich könne spielen.“ Wie durch ein Wunder schafft sie es, die richtigen Töne und Akkorde zu treffen. So überlebt Esther durch ihre Chuzpe und ihr musikalisches Talent die Hölle von Auschwitz und Ravensbrück, von wo aus sie bei einem Todesmarsch Ende April 1945 in die Freiheit entfloh. Knapp sieben Jahrzehnte später greift sie im Hamburger Hörsaal schließlich doch noch zum Mikrofon. Schon bei der kleinsten Silbe verstummt der Saal. Die Zuhörer lauschen gebannt, was ihnen ihr großes Vorbild mitzuteilen hat. „Mein Herz geht auf“, ertönt ihre helle und frische Stimme, die nicht zu dieser zierlichen, nur einen Meter siebenundvierzig kleinen Frau mit dem schlohweißen Bubikopf und den tiefen Furchen im Gesicht zu passen scheint. „So viele Leute!“, ruft sie. „Ich bin ganz begeistert!“ Dann setzt sie sich auf ihren Ehrenplatz in der ersten Reihe, faltet die Hände auf dem Studentenpult zusammen und lauscht den Erinnerungen der vier Jahre älteren Leidensgenossin Ljuba Abramowitsch, die via Skype, Leinwand und Beamer live aus New York mit Hamburg kommuniziert. Hochkonzentriert folgt Esther Bejarano den Schilderungen aus dem Widerstand im heutigen Weißrussland. „Es ist immer wieder spannend, diese vielen verschiedenen Geschichten zu hören“, sagt sie eine Woche später in ihrer gemütlichen Genossenschaftswohnung im Hamburger Nordwesten. „Bei Ljuba fand ich wahnsinnig interessant, dass sie bei den Partisanen war.“ Polizei beschützte die Falschen Esther Bejarano liebt das Widerständische, das Unbequeme, das Kämpferische. Seitdem sie Anfang der 70er Jahre das erste Mal ihren Mund gegen NPD und Polizei aufgemacht hatte, ist sie nicht mehr still geworden. Esther betrieb eine kleine Boutique im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Eines Tages bauten Anhänger der Nationaldemokratischen Partei einen Infostand vor ihrem Ladengeschäft auf und verteilten Flugblätter. Als Gegendemonstranten erschienen, prügelte die Polizei mit Gummiknüppeln auf diese ein. Die Überlebende der Shoah zögerte nicht lange und ging dazwischen. „Ich packte einen Polizisten am Revers und schüttelte ihn: Die wollen sie schützen? Das ist eine Katastrophe!“ Sie erntete jedoch nur Häme ̶ sowohl von den Rechten als auch von den Staatsbeamten. „Da war mir klar: Du musst etwas tun.“ Wenn Esther Bejarano über diesen Moment spricht, empört sie sich jedes Mal aufs Neue. „Das ist doch unmöglich, dass die Nazis frei demonstrieren können und die Polizei sie auch noch dabei beschützt!“, wettert sie in dem Lesesessel ihres Wohnzimmers. Auch die aktuelle Politik wie der Umgang mit den Lampedusa-Flüchtlingen bringt die quirlige Frau in Rage. Wenn sie wütend ist, starrt Esther Bejarano ihr Gegenüber mit blitzenden Augen an. Sie richtet sich auf, soweit es ihr alter Körper zulässt, der Mund steht weit offen und über ihre Stirn legen sich tiefe Zornesfalten. „Man muss etwas gegen diese Nazis tun“, sagt sie und bestärkt ihre Worte mit einer Faust. „Diese ganzen rechten Gruppen müssen verboten werden, da muss sich die Regierung nur an das Grundgesetz halten, denn da steht es ja ganz klipp und klar drin! Am Ende ändern die noch das Grundgesetz und dann haben wir wieder den Salat ̶ und davor hab‘ ich Angst!“ Bereits im Konzentrationslager hatte sich Esther geschworen, gegen die Nazis zu kämpfen. „Ich sagte mir damals: Ich muss das überleben und ich muss mich rächen!“ Dann sackt sie zurück in die Sessellehne und lächelt: „Rächen - das kann ich natürlich gar nicht!“ Aber sie tritt in Schulen und auf Kundgebungen auf und erzählt überall ihre Geschichte. Sie protestiert gegen rechte Tendenzen, gegen Nazis und alles, was mit Ungerechtigkeit zu tun hat. „Die Sache mit den Lampedusa-Flüchtlingen ist mir so sehr ans Herz gewachsen, weil meine Schwester Ruth bei ihrer Flucht aus Deutschland an der Schweizer Grenze zurückgewiesen wurde. Stellen Sie sich vor: Meine Schwester war schon in der Schweiz, aber die haben sie nicht rein gelassen und so haben die Deutschen sie erschossen. Das ist doch schrecklich! Und das ging ganz, ganz vielen Menschen so!“ Aus Palästina zurück nach Deutschland Eigentlich wollte Esther Loewy nach dem Krieg nie wieder etwas mit Deutschland zu tun haben. Wenige Monate nach ihrer Flucht wanderte sie ins damalige Palästina aus, machte eine Ausbildung zur Koloratursopranistin, trat als Solistin auf und sang außerdem im Arbeiterchor. Dort lernte sie die große Liebe ihres Lebens kennen, Nissim Bejarano. Die beiden heirateten und bekamen zwei Kinder. Esther vertrug das heiße Klima jedoch nicht und Nissim wollte nie wieder in den Krieg ziehen. „Mein Mann war von Haus aus Pazifist“, erklärt sie. „Hätte er den Kriegsdienst verweigert, wäre er ins Gefängnis gekommen.“ Also entschloss sich die Familie Bejarano 1960 nach Hamburg zu gehen. Bekannte hatten versichert, Deutschland habe sich verändert. Außerdem besaß Esther noch die deutsche Staatsangehörigkeit. Bis zu dem Vorfall mit dem NPD-Infostand lebten die Bejaranos unauffällig in der Hansestadt. Voller Terminkalender Danach wurde alles anders. Gleich am nächsten Tag trat Esther in die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ein. Als Zeitzeugin berichtete sie Schülern von ihren Erfahrungen. Und sie begann wieder zu singen, zunächst mit der Gruppe Siebenschön, später mit Coincidence, der Band ihrer Tochter Edna. „Wir traten bei Festivals in Deutschland und Europa auf und zwei Mal war ich sogar in Kanada. Das war toll!“ Überall sang sie Lieder aus den KZs, aus den Ghettos und aus dem antifaschistischen Widerstand. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ihr Terminkalender ist randvoll. Einem Konzert in Bünde folgt eine Lesung mit Konzert in Leverkusen, danach steht ein Interview zuhause auf dem Programm. Nach einem Tag Verschnaufpause fährt sie nach Berlin, um den „Blue Planet Award“ der Stiftung Ethik & Ökonomie für ihr mutiges und unbestechliches Engagement entgegenzunehmen. Gleichzeitig erhält die Deutsche Bank das Gegenstück, den „Black Planet Award“, weil sie laut Veranstalter die ethischen Prinzipien mit Füßen tritt und den Blauen Planeten in Gefahr bringt. „Das find ich ja klasse, dass die so einen Negativpreis ausrufen“, sagt Esther Bejarano und amüsiert sich köstlich. Woher sie die Kraft und Energie nimmt für die vielen Termine? „Das würde ich auch gerne wissen“, sagt sie und kichert. „Das ist tatsächlich alles sehr anstrengend. Ich gebe sehr viel, aber ich bekomme auch viel zurück. Zum Beispiel letzte Woche das Konzert in Hamburg – was war das für ein Applaus? Da gab es ja Standing Ovations! Das nehme ich als Zeichen, dass ich das Richtige mache. Ich nehme an, das hilft mir weiterzumachen.“ Nach dem Zeitzeugenbericht von Ljuba Abramowitsch trat Esther Bejarano im Uni-Hörsaal erneut nach vorn. Die drei Jungs ihrer Band „Bejarano & Microphone Mafia“ hatten den Soundcheck erledigt. Nun standen ihr Sohn Joram am E-Bass und die beiden Rapper Kutlu Yurtseven und Rosario „Rossi“ Pennino aus Köln für ihren gemeinsamen Auftritt bereit. Es war spät geworden. Die Luft im Saal war dick und verbraucht, das Publikum müde. Doch als die ersten Akkorde ertönten, waren alle sofort wach. Die Jungs haben Esthers alten Lieder neu interpretiert, jetzt rappen sie gemeinsam gegen rechts und spätestens bei Esthers Lieblingslied „Bella Ciao“ singt das Publikum begeistert mit. Am Schluss klatschen sich die Fans die Hände wund und Esther Bejarano, die große alte Dame des Hamburger Widerstands, strahlt und wirkt kein bisschen erschöpft. „La vita continua“ heißt das neueste Album der Band – „Das Leben geht weiter“. Buchtipp Esther Bejarano: „Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts.“ Herausgegeben von Antonella Romeo. Laika Verlag, ISBN: 978-3-944233-04-8, 21,- Euro

Heaven can wait

Ein Chor lehrt: Nutze deine Zeit!

erschienen in Publik-Forum, Heft 24/2023

Der Himmel kann warten - ein Hamburger Senioren-Chor singt für das Leben

© Stefan Malzkorn

Der Hamburger Chor Heaven can wait“ wirkt wie ein Jungbrunnen. Seine Mitglieder sind 70 Jahre und älter und sie rocken die Säle mit den Songs ihrer Enkel

Bevor die Probe beginnt, schnattern alle wild durcheinander. „Lübeck war herrlich!“, ruft Karin von Matzenau, eine großgewachsene Frau mit grau-gesträhntem Pagenschnitt, geradem Rücken, rotem Lippenstift und sorgfältig getuschten Wimpern. Die 76-Jährige steht mit ihren Mitsängerinnen zusammen und schwärmt von ihrem letzten Auftritt. „Der Saal hat gebebt“, schwelgt die Sopranistin und strahlt wie ein Teenager, der seine erste Liebe gefunden hat. „850 Zuschauer waren da. Alles ausverkauft. Erstaunlich, dass das Holstentor noch steht!“ Die Mitglieder des „Heaven Can Wait“-Chores krümmen sich vor Lachen. Einige Männer schlagen sich johlend auf die Schenkel. „Dieser Chor ist ein Geschenk“, sagt Karin von Matzenau und wischt sich Lachtränen aus den Augenwinkeln. Alle nicken. Die über-70-Jährigen sind sich einig: „Wir gehen jedes Mal glücklich nach Hause.“ Glück und Freude verbinden die wenigsten Menschen mit dem Älterwerden. Das wollte Chorleiter Jan-Christof Scheibe ändern. Der Hamburger Musiker und Kabarettist gründete 2013 am St. Pauli-Theater den Seniorenchor „Heaven Can Wait“ – „Der Himmel kann warten“. „Wir wollten Alter zu Stärke machen und nicht auf die Verwaltung von Dagewesenem beschränken“, erklärt der 60-jährige Entertainer. Seine Mutter Evamarie wird in der kommenden Woche 88 Jahre alt und ist seit Beginn des Chores dabei. Mit 77 Jahren erfüllte sie damals schon die einzige Voraussetzung für die Laiensängerinnen und -sänger: Sie mussten mindestens 70 Jahre alt sein und Spaß an junger Musik mitbringen. Mit diesem Konzept landete der Chorleiter einen Volltreffer. Rund drei Dutzend Männer und Frauen zwischen 70 und 100 Jahren füllen seitdem Norddeutschlands Säle mit Rocksongs, Rap und Hip-Hop. Sie singen Lieder, auf die ihre Kinder und Enkel stehen. Aus den Mündern der Kriegs- und Nachkriegsgeneration erhalten die Texte eine besondere Bedeutung. Wenn Oma „Die perfekte Welle“ von Juli singt, Opa „Emanuela“ von Fettes Brot oder beide im Duett Jan Delays „Oh Johnny“ schmettern mit allen Schimpf- und Unworten, die ihnen früher niemals über die Lippen gekommen wären, hält es niemanden auf den Stühlen. Seitdem der Dokumentarfilm „Heaven Can Wait – Wir leben jetzt“ beim Hamburger Filmfest im vergangenen September seine Premiere feierte, sind die Konzerte restlos ausverkauft. „Es ist schon ein Wahnsinn“, sagt Monika Gutte, die vor der Tür zum Proberaum noch schnell an ihrer E-Zigarette zieht. Sie ist eine fröhliche Frau mit Ringelpulli, Röhrenjeans und grauem Fransenschnitt. Früher war sie Meeresbiologin. Im Film ist sie eine der Hauptdarstellerinnen. „Seit dem Kinofilm werde ich in der S-Bahn angesprochen, ob ich nicht die aus dem Heaven Can Wait-Chor sei.“ Monika Gutte genießt ihren späten Ruhm. „Ich wollte mein Leben lang singen“, sagt sie mit breitem Hamburger Slang und atmet tief ein. „Jetzt kann ich das endlich machen. Ich bin einfach eine Rampensau und finde das absolut toll.“ Sie kichert und sagt: „Die zweite Frage ist meist: Was macht dein Arm?“ Während der dreijährigen Dreharbeiten und der Coronazeit war die alleinlebende Frau im Bad gestürzt. Auch ihre Seele lag sichtlich am Boden. „Dieser Chor ist mehr als nur Singen“, sagt „Moni“ mit einem tapferen Lächeln und zeigt, wie eingeschränkt ihre Schulter nach wie vor ist. Dann zuckt sie mit beiden Schultern und sagt: „Als 17-Jährige war ich einsamer als heute.“ Im Saal ertönt das E-Piano. Chorleiter Jan-Christof Scheibe klatscht in die Hände. Er spielt einen Gassenhauer und singt: „Es wäre so wunderbar, wir könnten proben …“ 15 Männer und 18 Frauen, von denen einige schon Urgroßeltern sind, stellen sich vor ihre Stühle, die in drei Reihen vor Scheibe aufgebaut sind. Sie tragen sportliche Jeans, flotte Blusen, bunte Sweatshirts und farbenfrohe Schals. Ihre Haare sind weiß, grau oder gefärbt, bei den Männern oft schütter bis gar nicht vorhanden. Sie lachen, stehen aufrecht und blicken ihren Chorleiter erwartungsvoll an. „Geht’s euch gut?“, fragt Jan-Christof Scheibe und erhält als Antwort ein unmissverständliches „Jaaaa“. „Und wie war Lübeck?“ Alle grölen vor Lachen. „Ja, das war der Hammer, ihr Süßen! Das war ein Kracher!“ Aber dann ermahnt er sein Ensemble, nicht abzuheben. „Bleibt auf dem Boden!“, ruft Chorleiter Scheibe, den alle respektvoll „Scheibe“ nennen. „Auch jetzt gilt die alte Botschaft: Habt einfach Spaß am Singen.“ Er beginnt mit dem Einsingen. Zehn Minuten dehnen und strecken sie sich, machen Atemübungen und formen Töne, ziehen Grimassen und üben Tonleitern. Danach folgt die Bluestonleiter und das zielgenaue Treffen der Halb-, Viertel- und Achteltöne. „Ihr müsst euch vorstellen, ihr spielt ,Für Elise‘, nur mit mehr Pepp“, ruft Jan-Christof Scheibe, spielt Beethovens Stück kurz an und springt hinter dem E-Piano vor. Mit großen und kleinen Schritten tanzt er die Tonleiter, hüpft die rhythmischen Übergänge vor und motiviert seinen Chor, sich auch auf dreckig klingende Akkorde einzulassen. Moni singt inbrünstig mit und übertönt alle. „Nicht so laut, Moni“, zügelt er die selbst ernannte Rampensau, dann gibt es ein kleines Geburtstagsständchen für Ulrich Staets, der heute 79 wird, und darauf folgt das US-amerikanischen Weihnachtslied „Sleigh Ride“ für die Konzerte im Advent. „Diese alten Menschen haben so viel Lebensfreude und Energie, wenn sie singen, davon können wir Jüngeren nur profitieren“, sagt Jan-Christof Scheibe in der Pause. „Alter heißt für mich nicht stehenbleiben, sondern im Kopf auf Reisen gehen. Wenn wir auf Tour gehen und vielleicht sogar in einem Hotel übernachten, ist das wie auf einer Klassenfahrt.“ Die Fluktuation sei im Chor wie in jedem anderen. Einige gehen, andere kommen dazu. Der Unterschied sei aber, dass sie hier wegen schwerer Krankheiten gehen oder weil sie sterben. „Der Tod ist uns immer nah und wir sind sehr betroffen, wenn jemand stirbt, aber es geht auch weiter. Diese Jungs und Mädels machen mir Mut. Sie sind das beste Beispiel dafür, dass man sein Leben in die Hand nimmt. Ihre Botschaft lautet: Nutz deine Zeit!“ Scheibes Mutter Evamarie möchte diese Zeit nicht missen. „Für Jan-Christof ist das ein Projekt unter vielen“, erklärt die weißblonde Frau mit den großen, ausdrucksvollen Augen, die ihren Chorleiter als einzige beim Vornamen nennt. „Für mich ist das ein einmaliges Erlebnis, im hohen Alter solch ein Echo zu erfahren.“ Neben ihr steht Geburtstagskind Ulrich Staets und bekräftigt: „Wenn Evamarie das Lied ,Ne Leiche‘ singt, ist das der Song überhaupt!“ Die Solistin lacht über das Stück des Berliner Musiker-Duos SDP, bei dem es um die Beseitigung einer Leiche im Keller geht. „Zuerst dachte ich, was ist das denn für ein Lied, aber jetzt habe ich mich richtig darin verliebt, weil es so lustig ist.“ Wie die meisten Mitglieder singt Evamarie Scheibe schon lange. Die 81-jährige Tamara Böhning hat ihr Leben lang im Kirchenchor gesungen. „Da fliegst du aber mit 70 raus“, sagt sie kopfschüttelnd. Dorothea Kyrieleis gehört seit 40 Jahren dem anerkannten Kirchenchor St. Johannis im Hamburger Stadtteil Harvestehude an. „Bei mir hat die Popmusik bei den Beatles aufgehört“, sagt die 80-Jährige und lacht. Heute singt sie begeistert Titel von Udo Lindenberg, Sarah Connor oder Deichkind. Die einstige Schauspielerin und spätere Pädagogin Lola Plass ist über ihren Mann in den Chor gekommen. Er starb während der Dreharbeiten zum Kinofilm an einer Krebserkrankung. Drei Monate später fragte Jan-Christof Scheibe die Witwe, ob sie nicht mitsingen wollte. „Ich war sehr überrascht und musste erstmal den Familienrat fragen, denn wenn mich die Kinder im Chor sehen, begegnen sie auch ihrem Vater“, erklärt die sportliche 80-Jährige. Beide Kinder waren einverstanden und Lola Plass machte eine neue Erfahrung: „Der Chor hat mich aufgenommen wie eine Freundin“, sagt sie. „Die Gemeinschaft ist eine Wohltat und es war ein tolles Gefühl zu sehen, wie gern alle meinen Mann mochten.“ Das Singen half ihr bei der Trauerarbeit und heute steht die zierliche Frau mit dem weißblonden Pagenschnitt neben Evamarie Scheibe in der ersten Reihe bei den Tenören. „Mir ist das eine Riesenfreude“, sagt sie. Der Chor will nicht niedlich sein, es ist ein Powerchor. Einer, der Lust auf jeden Augenblick macht.

Transformationsforschung

Die Vordenkerin

erschienen in Publik-Forum, Heft 6/2021

Maja Göpel zählt zu den führenden Transformationswissenschaftlerinnen Deutschlands. Ein Spaziergang in Berlin.

© Karin Desmarowitz

Maja Göpel will die Welt umkrempeln und setzt ihre Hoffnung auf den Menschen. Die Transformationsforscherin ist überzeugt: Weniger ist der Schlüssel zum guten Leben.

Vor ihrem Jobwechsel ins neu gegründete „The New Institute“ in Hamburg hat Maja Göpel noch einmal den Koffer gepackt, um sich fünf tage zurückzuziehen. Die 44-Jährige macht solche „Retreats“, wie sie sie nennt, regelmäßig. Meist in einem buddhistischen Zentrum in Norddeutschland. 2020 war ein „verrücktes Jahr“, sagt die große, schlanke Frau, Deutschland wohl bekannteste Transformationsforscherin während eines corona-konformen Spaziergangs entlang der Spree in Berlin. Ein bordeauxfarbener Wollmantel, ein hochgezogener Schal und eine Kappe mit Zebramuster schützen sie gegen den eisigen Wind, der über das Ufer fegt. In diesem Jahr dürfte es jedoch nicht ruhiger werden, denn Maja Göpel beschäftigt sich mit dem Wandel, den die Bewältigung der Klimakrise Wirtschaft und Gesellschaft abverlangt. Und der muss schnell erfolgen. Für Göpel bedeutet das: Fernsehauftritte, Interviews für Onlinemagazine, Radiosendungen und Zeitungen. Auf Youtube erklärt die promovierte Politikökonomin die Geschichte der Nachhaltigkeit. Ihr wachstumskritisches Buch „Unsere Welt neu denken“, ein Plädoyer für eine gerechte und nachhaltige Zukunft, wurde 2020 zum Bestseller. Darin lädt die Wissenschaftlerin ihre Leserinnen und Leser ein, einen anderen Blick auf Gesellschaft und Entwicklung zu richten. Göpel hat auch die Bundesregierung beim Thema Transformation beraten, als Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen. Seit kurzem ist sie wissenschaftliche Direktorin des „The New Institute“ in Hamburg, einer Art Denkfabrik für den Wandel. Das Leben von Maja Göpel spielt sich nun zwischen Hamburg, Berlin und Werder in Brandenburg ab. Vor zwei Jahren zog sie mit ihrem Mann und den beiden Töchtern in das idyllische Städtchen an der Havel. Der Trubel im Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg wurde dem deutsch-britischen Paar zu viel. „Wir hatten Lust auf freilaufende Kinder“, erklärt sie. Mit dem Umzug aufs Land versprach sich Maja Göpel mehr Ruhe und Entschleunigung. Im gemeinsamen Haus wohnen ihr Mann und sie inzwischen in getrennten Wohnungen und sorgen nach dem Ende ihrer Partnerschaft gemeinsam für ihre Töchter. Göpel ist selbst auf dem Land aufgewachsen, mit Pferden, grünen Wiesen, Wald und weitem Blick. 1976 in Bielefeld geboren, lebte sie in ihrer Kindheit mit den Eltern, der jüngeren Schwester, zwei weiteren Familien, einem australischen Au-Pair und einem tamilischen Geflüchteten in einem Bauernhausprojekt. Nötiger Bewusstseinswandel Maja Göpel spricht schnell und lacht viel. „Wir müssen das Lebendige feiern“, lautet eines ihrer Lebensmottos. Doch die Krisen ihrer Jugend haben sie nachdenklich gemacht: Maja war zehn Jahre alt, als in Tschernobyl vier Reaktorblöcke explodierten. Danach versetzten HIV und Aids die Welt in Angst und Schrecken. Der Regen war sauer, der deutsche Wald starb und Maja Göpel fragte sich, wie alternative Wirtschaftsformen aussehen könnten. „Mit 14 begann ich mir Gedanken zu machen, warum wir die Gesellschaft kollektiv nicht so gestalten, wie sich die einzelnen Menschen das wünschen“, erzählt sie während des Spreespaziergangs. „Wie sieht ein gutes Leben für alle im 21. Jahrhundert aus?“, lautet eine der Kernfragen, die sie antreiben. Ihr wurde schnell klar, dass Gewinnmaximierung nicht alles sein könne. Als junge Frau engagierte sich Maja Göpel beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, studierte Medienwirtschaft, promovierte in politischer Ökonomie und baute als Kampagnenleiterin und spätere Direktorin für Zukunftsgerechtigkeit den World Future Council in Hamburg und Brüssel mit auf. Sie besuchte Klimagipfel und Konferenzen und spann ein breites, weltweites Netzwerk. Für ihre Doktorarbeit besuchte sie mit der Initiative Friends of the Earth Fischer- und Kleinbauernfamilien im globalen Süden. „Wenn du einmal erlebt hast, wie sich unsere Regeln für erfolgreiches Wirtschaften und die globalen Handelsstrukturen in den armen Ländern auswirken und dass sich dort Menschen deshalb aus Ohnmacht und Verzweiflung umbringen, kannst du das einfach nicht mehr vergessen“, sagt sie. Der Weg zu ihrem alten Büro beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung führt vorbei am Kanzleramt und dem Bundestag. Drei Jahre lang hat Maja Göpel mit ihrem Team die wissenschaftlichen Grundlagen für nachhaltige Transformationsprozesse aufbereitet und Regierungsempfehlungen ausgesprochen. Dazu gehörten ressourcenschonende Wirtschaftskreisläufe, Mobilitätskonzepte, der Erhalt der Biodiversität, Transaktionssteuern auf Aktien, eine gemeinwohlorientierte Digitalisierung und vieles mehr. Nur wenig wurde umgesetzt. Frustriert ist Göpel aber nicht. „Im Moment passiert gerade ganz viel. Wir befinden uns in einer Phase des Umbruchs, in der tatsächlich offen über Veränderungen der Wirtschaftsordnung gesprochen wird.“ Maja Göpel glaubt an das Gute im Menschen. Sie bezeichnet sich selbst als „unbeirrbare Humanistin, die an die Kraft von Wissen und Gewissen glaubt“. Wissenschaft hat für sie die Aufgabe, evidenzbasierte Erkenntnisse in die Gesellschaft hineinzutragen. So entstand ihr erstes Buch, das sie 2016 als Direktorin des Berliner Büros des Wuppertal Instituts für Kima, Umwelt, Energie veröffentlichte. In „The Great Mindshift“ („Der große Bewusstseinswandel“) verbindet Maja Göpel systemische Veränderungsansätze mit Theorien politischer Ökonomie und dem Wissen über Change-Leadership, also Führung in Veränderungsprozessen. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stehen die Menschen. „Jeder Mensch ist wichtig“, sagt sie mit Nachdruck. „Nur gemeinsam können wir die Welt verändern.“ Jeder und jede müsse sich fragen: „Was kann mein Beitrag sein? Wie finde ich die Balance zwischen Freiheit und Verantwortung?“ Doch sie weiß: „Große Veränderungen dauern einfach undankbar lang, und wir haben nur wenig Zeit.“ Die Welt befinde sich an einem Kipp-Punkt, klimatisch wie gesellschaftlich. Als Greta Thunberg und Zehntausende junger Menschen die Bewegung Fridays for Future anstießen, begründete Maja Göpel mit anderen Forschenden im März 2019 das Netzwerk Scientists for Future. Rund 27.000 Expert*innen verschiedenster Fachgebiete stellten sich hinter die jungen Klimaaktivisten, um sie mit fundiertem Wissen zu unterstützen. „Die Forderungen der jungen Generation sind absolut berechtigt“, wiederholt Maja Göpel in jeder Talkshow und jedem Interview. Auf ihre präzisen Argumente haben viele Menschen gewartet. Ihr jüngstes Buch hat sich weit über hunderttausendmal verkauft. Doch es hagelt auch Kritik – auf Facebook, Instagram und Twitter wie in den traditionellen Medien. Raus aus der Produktionsfalle „Wissenschaft im medialen Diskurs zu vermitteln ist eine echte Gratwanderung“, weiß Maja Göpel. „Einerseits sollst du vereinfachen und zuspitzen, dann aber werden provokante Überschriften gesucht, Inhalte politisch aufgeladen, es wird personalisiert oder dir gleich eine Agenda unterstellt.“ Dabei gehe es ihr als Wissenschaftlerin darum, auch politisch unangenehme Erkenntnisse deutlich auszusprechen und mögliche Wege für eine lebenswerte Zukunft darzulegen. „Mit unserem Wirtschaftsmodell sind wir in eine Produktivitätsfalle gestolpert, in der es nur um höher, schneller, weiter geht.“ Es sei unglaublich, dass nicht ernsthaft über ein Genug gesprochen werde: „Weniger machen könnte der Schlüssel zu einem wirklich guten Leben sein.“ Beim New Institute in Hamburg will Göpel gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen Lösungen für die größten Zukunftsprobleme aus verschiedenen Perspektiven wie Kunst, Kultur, Technologie, Wissenschaft oder Religion erarbeiten. Das Geld dafür kommt vom Unternehmer Erck Rickmers, Gründungsdirektor des Instituts ist der frühere Generalsekretär der Volkswagenstiftung, Wilhelm Krull, und auch ein früherer Kommunikationsberater, Christoph Gottschalk, gehört zum Kernteam. „Ich finde es hochspannend, dass wir jetzt einen Ort haben, an dem Menschen, die sozusagen aus dem Gewinner-System kommen, Verantwortung übernehmen und sagen: Wir müssen im Zweifel auch die Strukturen verändern, von denen wir in der Vergangenheit profitiert haben“, sagt Göpel, bevor sie zurück nach Werder fährt, den Ort, an dem sie das gute Leben für sich und ihre Kinder gefunden hat. Maja Göpel: Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Ullstein. 2020. 208 Seiten. 17,99 Euro

Sternenkinder

erschienen in Publik-Forum, Heft 22/2021

Fotos von schöner Traurigkeit

Sternenkinder - das erste und letzte Foto vom geliebten Kind

© Jana Maiwald

Wenn Kinder tot geboren werden oder kurz nach der Geburt sterben, hält Jana Maiwald die Erinnerung an sie in einfühlsamen Fotos fest.

Die winzige Hand ist so groß wie ein Fingernagel, das Köpfchen passt leicht in die Hand der Eltern. Mund und Augen sind friedlich geschlossen, das Näschen ragt keck aus dem kleinen Gesicht hervor. Das Ohr, der Nacken, die Schulter – alle Körperteile sind vollständig ausgebildet. Trotzdem ist die kleine Nova tot. Sie ist ein Sternenkind, das seinen Weg nicht lebend in die Welt geschafft hat. Als die Eltern in der 21. Schwangerschaftswoche erfuhren, dass ihr Töchterchen im Mutterleib sterben würde und die Geburt eingeleitet werden musste, entschieden sie sich, in der Klinik professionelle Fotos machen zu lassen. „Die Atmosphäre war unheimlich vertraut, sanft und würdevoll“, erinnert sich Jana Maiwald an ihren siebten Einsatz als ehrenamtliche Fotografin für die Stiftung „Dein Sternenkind“. Vier Tage lang hatte sie bereits in telefonischem Kontakt zu Novas Mutter gestanden. Am 20. November 2020 war es so weit. Die Medikamente hatten gewirkt und Nova war da. Wenige Stunden später betrat Jana Maiwald mit Kameratasche und ausgewählten Dekorationsstücken die Geburtsstation des Uniklinikums Dresden. „Sanftes Licht schien ins Zimmer“, sagt die 40-jährige Dresdnerin. „Nova war zart und hatte eine strahlende Aura wie ein hell leuchtender Stern.“ Zwei Stunden blieb sie bei der jungen Familie. Eine Woche später erhielten die trauernden Eltern liebevoll verpackte Fotoabzüge, Karten und einen USB-Stick. Die Aufnahmen sind die wichtigsten Erinnerungen an ihre totgeborene Tochter. „Dieses Ehrenamt ist für mich eine Herzensangelegenheit“, sagt Jana Maiwald in ihrer Wohnküche im Dresdner Stadtteil Löbtau. Mit ihrem Mann und der 13-jährigen Tochter lebt sie in einem netten Dreifamilienhaus mit Terrasse und Garten. Beruflich hat die Projektmanagerin für Hochzeits- und Spielemessen hauptsächlich mit fröhlichen Menschen zu tun. Jana Maiwald weiß: „Für Babyfotos geben die Eltern wahnsinnig viel Geld aus. Das Thema stille Geburt hängt aber unter der großen Dunstglocke: Tote Kinder fotografiert man nicht.“ Gerade verwaiste Eltern und Geschwister brauchen bleibende Erinnerungen, um ihren schweren Schicksalsschlag zu bewältigen. Jeder Einsatz ist anders Diese Erfahrung machen die 624 ehrenamtlichen Fotografinnen und Fotografen der Stiftung „Dein Sternenkind“ bei jedem Einsatz. Seit 2016 wurden sie über 11.000 Mal gerufen. Im Jahr 2020 fotografierten sie 3.142 Sternenkinder in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mitte September 2021 waren es bereits 2.975. Die Stiftung und ihre Ehrenamtlichen betreiben immer mehr Öffentlichkeitsarbeit, um das Thema aus der Tabuzone zu holen. Die Familien müssen für die Fotos keinen Cent bezahlen. Das Material finanziert die Stiftung über Spenden. Die Ehrenamtlichen geben ihr Können und ihre Zeit und übernehmen sogar ihre eigenen Fahrtkosten. „Jeder Einsatz ist anders“, sagt Jana Maiwald. „Du weißt nie, was dich erwartet.“ In den vergangenen zwölf Monaten hat sie 30 Sternenkinder abgelichtet. Sie heißen Mia, Julius, Simeon oder eben Nova. „Jedes Mal war es anders.“ Jana Maiwald hat in Schwesternzimmern fotografiert, auf Intensivstationen, in Kreißsälen oder, wie in Novas Fall, in separaten Räumen. Niemals mit Blitz, immer mit Fingerspitzengefühl und lichtstarken Objektiven. „Ein Krankenhaus ist ja kein Studio“, sagt die ehemalige Kamerafrau und Reporterin für den Mitteldeutschen Rundfunk und ARTE. „Man muss kein Profi sein, aber die Technik muss man beherrschen.“ Der richtige Blick und Umgang mit Menschen sind ebenfalls unerlässlich. Manche Eltern wollen ihr Kind nicht sehen oder berühren, andere wollen es nicht mehr loslassen. Einige Kinder sind nicht einmal so groß wie eine Feder, andere sterben plötzlich und unerwartet unter der Geburt. Bei jedem Einsatz stellt sich Jana Maiwald die Frage: „Wie kannst du dieses kleine Wesen so würdevoll in Szene setzen, dass sich die Eltern darüber freuen?“ Manchmal ist das schwierig. „Bei einigen Sternchen kann ich nur ein Händchen oder Füßchen fotografieren“, sagt sie, „aber für die Eltern ist es dann wenigstens ein Händchen oder ein Füßchen.“ Die passionierte Fotografin hat ihre ehrenamtliche Berufung im September 2020 während der Corona-Pandemie gefunden. „Ich wollte mich schon immer gesellschaftlich engagieren“, sagt Jana Maiwald. Als eine Freundin vor drei Jahren starb und einen Sohn im Alter ihrer Tochter hinterließ, überlegte Jana Maiwald, Trauerbegleiterin zu werden. „Das passte aber nicht zu meinem Vollzeitjob bei der Messe. Ich brauche etwas Flexibleres.“ Als sie in Kurzarbeit gehen musste, entdeckte sie im Internet einen Aufruf der Stiftung “Dein Sternenkind“, die Ehrenamtliche im Dresdner Raum suchte. „Mein Herz sagte sofort: Das ist es!“ Kurze Zeit später bekam sie ihren ersten Call. „Das war ein Sprung ins kalte Wasser, aber die Aufregung war komplett verblasst, als ich im Auto saß.“ Geholfen hat ihr auch ein Telefonat mit der Einsatzkoordinatorin von „Dein Sternenkind“. „Ich wusste ja nicht einmal, ob ich herzliches Beileid sagen sollte oder nicht.“ Inzwischen weiß Jana Maiwald, dass sie sich auf ihre Intuition verlassen kann. „Eine Hand auf der Schulter oder eine Umarmung sagt mehr als 1.000 Worte. Bei den Einsätzen funktioniere ich wie ein Kapitän auf einem Schiff. Ich manövriere die Eltern durch die Situation.“ Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen der Stiftung sagt sie: „Wir machen das, weil wir es können und weil es wichtig ist. Für die Eltern machen wir das erste und das letzte Bild ihres Kindes.“ „Mist, jetzt muss ich doch heulen“ Auf dem Tisch dampft eine Tasse Kaffee. Daneben liegt ein Ordner mit Fotos, Notizen und Dankeskarten der verwaisten Eltern. Viele haben ihr geschrieben, auch zu Weihnachten. „Das erwarte ich nicht, aber es ist trotzdem sehr schön“, sagt die passionierte Fotografin und zeigt gemalte Bilder von Geschwistern oder gebastelte Karten. „Ein Geschwisterkind meinte, die Fotos hätten eine schöne Traurigkeit“, sagt Jana Maiwald und beißt sich auf die Lippen. „Wenn du das Monate später liest, denkst du: Mist, jetzt muss ich doch noch heulen.“ Ihr Mann war zunächst skeptisch, ob die schwere Aufgabe sie nicht zu sehr belasten würde. Seine Befürchtungen haben sich gelegt. „Ich fühle mit, aber ich leide nicht mit“, erklärt Jana Maiwald. „Wenn wir jetzt gemütlich auf der Couch liegen und es kommt ein Alarm, sagt er: Na, geh schon!“ Auch ihre Tochter interessiert sich für ihr Ehrenamt. „Sie fragt viel nach und wenn ich einen Call bekomme, sagt sie: Mama hat wieder ein Sternchen.“ Wie wichtig ihr Engagement tatsächlich ist, weiß niemand besser als die betroffenen Eltern. „Jana war für uns wie ein Geschenk“, sagt Luisa Hommel in ihrer Dachgeschosswohnung in der Dresdner Neustadt. „Wir waren so stolz auf unsere Tochter und Jana hat sich mit uns gefreut und gesagt: Ist die hübsch!“ Die Fotos schauen Luisa und Felix Hommel jeden Abend auf dem Handy an. Im Flur hängt eine Fotocollage. Sie können sich an ihrer kleinen Nova nicht satt sehen. „Sie gehört zu unserem Leben“, sagt Luisa Hommel. „Man vergisst das Aussehen eines urgeliebten Menschen, aber die Fotos bleiben für immer.“ In zwei Monaten erwartet sie ihr zweites Kind. Dann wird sie Jana Maiwald fröhliche Familienfotos schicken.

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