Aus Deutschland
Spannende Geschichte aus der Nähe.
Zu Hause schreibe ich vor allem Sozialreportagen, Porträts und Interviews über Menschen, Projekte und Initiativen.
@Wolfgang Huppertz
@Karin Desmarowitz
Altkleider
erschienen in Frau und Mutter, Heft 4/2014
Ein Shirt geht um die Welt
Wie landet Maxims Handballtrikot in Burundi?
Altkleider legen bisweilen absurde Wege zurück. Zum Beispiel vom Hamburger Stadtteil Niendorf in das burundische Dorf Gaturanda. Hier trägt die Bäuerin Marguerite Nzigo das ausrangierte Handballtrikot des zehnjährigen Norddeutschen Maxim Maderner. Eine Spurensuche.
„Ding Dong, Ding Dong - kennen Sie das? Mein Gedicht macht Ding Dong!“ Lars Ruppel, 27 Jahre, weinrote Cordhose, Sakko, verwuschelte Haare und Hornbrille, schreitet theatralisch durch den Stuhlkreis im Speisesaal. Die alten Menschen starren gebannt auf den fremden jungen Mann. Was will er von ihnen? Worum geht es hier? Warum sitzen sie im Speisesaal, wenn es doch kein Essen gibt? Allmählich tauchen die Worte jedoch aus ihren verschütteten Erinnerungen auf: die Glocke, Schiller, Schule! Fast jeder hat das Gedicht in seiner Jugend gelernt. Irgendwo in den Tiefen des Gehirns verbergen sich die Zeilen. Während Lars Ruppel sie lauthals deklamiert, huscht ein zartes Lächeln über das eine oder andere Gesicht. „Fest gemauert in der Erden, steht die Form aus Lehm gebrannt. Heute muss die Glocke werden! Frisch, Gesellen, seid zur Hand!“ Lars Ruppel spricht langsam, eindringlich, deutlich. Fast brüllt er die Silben in den Saal hinein. Immer wieder, immerfort wiederholt er die ersten vier Zeilen in monotonem Stakkato. Er geht von Rollstuhl zu Rollstuhl, ein, zwei, drei Runden lang. Dabei blickt er den alten Menschen tief in die Augen. Er packt sie bei den Händen, berührt ihre Arme und siehe da: Sie erinnern sich! Hans-Jürgen Kurzwig, acht Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs geboren, schmettert plötzlich die Zeilen mit. Sophie Mrula, 94 Jahre, schlägt vergnügt ihre Hände auf die Oberschenkel. Freudestrahlend fällt sie in den Singsang ein. Selbst Frau „Wunderschön“ brabbelt etwas vor sich hin. Lars Ruppel hat ihr den entzückenden Märchennamen gegeben, weil sie ihren richtigen vergessen hat. Frau Wunderschöns achtzehnjährige Sitznachbarin kämpft vor Rührung mit den Tränen. Begegnung nimmt Beklemmung Die beiden Frauen verbindet bereits eine besondere Begegnung. Ferda Gençtürk gehört zu den zehn Schülern des Harburger Wirtschaftsgymnasiums, die heute den Gedichtworkshop mit Lars Ruppel gestalten. Als sich die Schülerin zu Beginn bei den Senioren vorstellte, ließ die alte Dame ihre Hand nicht mehr los. Verlegen suchte Ferda Gençtürk das Gespräch: „Wie geht es ihnen?“ Und: „Wir wollen heute Gedichte aufsagen.“ Ihr Gegenüber blieb jedoch sprachlos. Die peinliche Situation rettete Profi Ruppel. „Oh, Frau Wunderschön, sie halten ja die Hand dieser jungen Frau so fest, was ist denn damit?“, fragte er, löste den Klammergriff und fasste selbst kräftig zu. „Warm“, flüsterte die alte Dame. Ein besseres Stichwort konnte sie dem Improvisationskünstler nicht geben. Geschwind verdrehte er die Worte, dichtete Verse, erfand ein fröhliches Liedchen, schwang ihre Hände in die Luft und löste sich somit spielerisch aus ihren Fesseln. Frau Wunderschöns Gesicht erstrahlte für einen Augenblick. Mit Ringelnatz im Rucksack „Es geht darum, den Moment zu genießen, fröhlich zu sein und positiv zu bleiben“, erklärt Lars Ruppel. „Die wirklich stark dementen Menschen holen wir nicht mehr in unsere Welt zurück. Wir müssen uns selbst in ihre Welt hineinbegeben.“ Mit bestimmten Methoden wie Hände- und Augenkontakt, Bewegungen, Rhythmik, chorischem Singen und Mimik setzt der Marburger Dichter Erinnerungsprozesse in Gang. Durch direkte, persönliche Ansprache öffnet er die Rezeptionskanäle der dementen Menschen. „Weckworte“ heißt das Projekt, mit dem er seit 2009 durch deutsche Seniorenheime tourt. Die Idee stammt aus den USA, wo Poetry-Slammer Gary Glazner seit 2004 erfolgreich „Alzpoetry“ für Senioren praktiziert. Lars Ruppel bringt in Deutschland Jung und Alt zusammen. „Am Schönsten wäre es, wenn sich ein Schüler danach um ein Praktikum oder einen Ausbildungsplatz bewirbt“, findet er. Die Schüler trafen sich bereits um acht Uhr morgens mit Lars Ruppel zum Workshop im Keller des Harburger Rotkreuz-Seniorenheims. Sie lernten Grundlagen der Bühnenpräsenz, Aussprache oder Atemtechnik und am Ende der Einheit erhielt jeder ein Gedicht. Nun tragen sie eine Stunde lang Klassiker wie Eichendorff, Ringelnatz, Fontane oder Goethe vor. Auch Wilhelm Busch und Heinz Erhard stehen auf dem Programm. Mit jedem Wort überwinden die jungen Leute mehr ihre Scheu, mit jeder Zeile gewinnen ihre Stimmen an Volumen. Wenn ihr Publikum schwächelt, springt Lars Ruppel auf und macht wieder Dampf. „Eine Stunde Konzentration ist für sie ein extrem herausforderndes Programm“, weiß er. Kein Wunder, dass eine Dame zwischendurch einnickt und zwei den Saal vorzeitig verlassen. Das verbleibende Dutzend hat jedoch großen Spaß. Zum Schluss dreht Lars Ruppel noch einmal die Runde, verteilt goldstrahlende Ranunkeln und fragt jeden Einzelnen: „Was ist das Schönste für Sie?“ Aus den Antworten formt er ein Gedicht, das er mit Tanz und Gesang vorträgt: „Es ist schön, wenn die Männer zu einem kommen! Es ist schön, wenn man Geld hat! Es ist schön, wenn man lebt! Es ist schön, wenn man den Moment genießen kann!“ Und zwischen den Strophen singen alle zusammen die Gute-Laune-Hymne Nummer Eins: „Oh, wie ist das schön! Oh, wie ist das schön! So was hat man lange nicht gesehn, so schön, so schön!“ Zum Abschied bringen die Schüler ihre Nachbarn auf die Zimmer. „Ich bin absolut positiv überrascht“, sagt Ferda Gençtürk. „Die alten Menschen erschienen erst so grimmig, aber dann waren sie superlieb und es war eine tolle Stimmung.“ Auch die Leiterin der Sozialen Betreuung im DRK-Seniorenheim Eichenhöhe ist begeistert. „So etwas ist ein absolutes Highlight für unsere Bewohner“, sagt Dominique Robertson, die Lars Ruppel zum ersten Mal mit Hamburger Schülern zusammengebracht hat. „Sie vergessen alles, was passiert ist, aber die Emotionen bleiben. Was sie erinnern, ist, dass dies ein wunderschöner Tag ist.“ Geschäftsführer Wolfgang Korn will das Projekt auf jeden Fall wiederholen. Zum Abschied bedankt er sich bei den jungen Menschen: „Sie haben heute zaubern gelernt. Sie haben ein Lächeln in die Gesichter unserer Bewohner gezaubert.“ Wer könnte das besser einschätzen als jemand, der täglich mit Dementen arbeitet? Fünf Fragen an Lars Ruppel 1.Warum machen Sie „Weckworte“? Das Projekt ist sinnvoll und es zeigt mir, was ich als Dichter alles bewirken kann, nämlich: dass Menschen sich für einen kurzen Moment besser fühlen. 2.Wie sind sie dazu gekommen? 2009 hatte ich die Möglichkeit, mit Förderung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst einen Workshop zu organisieren. Dazu lud ich Gary Glazner aus den USA ein, von dessen Projekt „Alzpoetry“ ich gehört hatte. Bei dem Workshop habe ich selbst gleich mitgemacht und ich war so begeistert davon, dass ich das Konzept in Deutschland übernommen habe. 3.Wie funktioniert „Weckworte“? Ich verinnerliche klassische Gedichte, um sie Menschen vorzutragen, die meine volle Aufmerksamkeit brauchen. Wenn mir das gelingt, wecke ich ihr Verständnis für diese Worte. Mein Anspruch dabei ist, die Gedichte so vorzutragen, dass für jeden Menschen, auch wenn er mich nicht sieht, hört oder sonst wie wahrnimmt, etwas rüberkommt. 4.Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Zu den einfachsten und schönsten Dingen, die Menschen füreinander tun können, zählt, sie zum Lachen zu bringen. Wenn mir das gelingt, ist das etwas Wunderbares. Nach so einem Workshop bin ich meistens erschöpft. Das ist ein Hinweis, dass ich es gut gemacht habe und die Gedichte mit Leben gefüllt habe. 5.Wie sieht Alzpoetry aus, wenn Sie alt sind? Das wird sicherlich schwierig, weil wir nicht mehr so viele Gedichte können wie die jetzigen Senioren. Die zukünftigen Weckworte werden wohl eher etwas mit Werbebotschaften zu tun haben oder mit Gangsterrap.